Sonar 2005, Barcelona (Festivalbericht – FAZ)

Barcelona, alle Jahre wieder, Mitte Juni: Sonar ist der sonnige Treffpunkt für die Szene der elektronischen Musik. Auch dieses Jahr kamen rund 90 000 Zuschauer zu über 130 Konzerten und DJ-Sets. Das offizielle Tagesprogramm bietet im Museum für Zeitgenössische Kunst im Zentrum Barcelonas Zeit für Open Air und das eine oder andere Experiment. Nachts tanzen Tausende in drei riesigen Hallen in einem Industriegebiet am Stadtrand. Die Vielzahl der Shows – für jeden Geschmack ist etwas dabei – sowie die parallel laufende Musikmesse sorgen für ein fachkundiges, kontakt- und feierfreudiges Publikum. Eine Allianz aus findigen lokalen Veranstaltern und Elektronik-Aktivisten aus aller Welt ergänzt Sonar zudem um ein reichhaltiges Off-Programm. Etabliertere Plattenfirmen pflegen dahingehend schon seit Jahren enge Verbindungen mit den großen Clubs der Stadt. Kleinere Label können sich beispielsweise an diesen Macher aus Barcelona wenden, der während des Festivals jeden Abend in einer anderen Location eine Party schmeißt. Und für Bookingagenturen oder trendige Modemarken bleibt immer noch der Strand, ein nahe liegender und zumeist höchst angenehmer Veranstaltungsort, um am Rummel des Festivals teilzuhaben und Präsenz zu zeigen. Kein schickes Restaurant ohne DJ, kein Trip ohne Tapas, keine Taxis mehr weil zu viele Touristen: Barcelona wirkt nicht wie eine Stadt, in der es jemals besonders langweilig wäre, doch rund um das Sonar-Festival ist die Stadt im Taumel. 

Eine der seltenen Live-Darbietungen von Matthew Herberts neuem Album „Plat du Jour“ ist zweifellos der erste große Moment des Festivals. Schon eine halbe Stunde vor Beginn des Auftritts wird der Saal wegen Überfüllung geschlossen, schließlich muss die Polizei eingreifen, um das Gedränge von mehr als tausend Wartenden aufzulösen. Im Saal warnt derweil Herbert, früher vor allem für House und Techno geschätzt, die Tanzwütigen vor: „This is different from what I usually do.“ Letztes Jahr hat Herbert das Publikum an gleicher Stelle im Chor in Äpfel beißen lassen und die Geräusche aufgenommen. Mit diesen und anderen Fieldrecordings zum Beispiel in Legebatterien produzierte Herbert „Plat du Jour“, mit dem er die Missstände bei der Produktion von Lebensmitteln und ihrer Vermarktung kritisieren will. Die Verarbeitung der Aufnahmen versteht Herbert als zutiefst symbolischen Prozess. Bei der Auswahl der verwendeten Nahrungsmittel, der Aufnahmeorte oder der Geschwindigkeit der Stücke ist nichts dem Zufall überlassen. Linker Kanal Weißbrot, rechter Kanal Schwarzbrot: Das Ergebnis ist alles andere als leichte Kost und muss eher als künstlerisches Dokumentarhörspiel aufgefasst werden denn als schnell verwertbares Amüsement. Herbert verlangt von seinen Fans aufmerksames Zuhören und ein intensives Studium der mitgelieferten Informationen. Im Vorteil ist daher, wer wie in Barcelona eine weitgehend selbsterklärende Konzertvorführung sehen kann. Herbert inszeniert sie als Festival der Sinne. Engagierte Visuals, vier Musiker und eine Köchin, die während des Live-Acts ein wohlduftendes Mahl zubereitet. Die Zuschauer hören sich Herberts Lektionen geduldig an, seine politischen Statements genießen großen Respekt. Bei heftigem Applaus nimmt sich Herbert die Zeit für den genüsslichen Verzehr eines frisch zubereiteten Bratapfels und ein Glas Wein. Doch Stimmung kommt vor allem dann auf, wenn Dani Sicilianos Stimme (leider nur vom Band) oder ein annähernd tanzbarer Beat erklingt. Der abschließende dramaturgische Höhepunkt wird über die Leinwände eingespielt. Matthew Herbert hat ein Essen nachgekocht, das Tony Blair und George W. Bush bei dessen Dankbesuch für die Unterstützung im Irak-Krieg einnahmen. Auf einer Picknickdecke drapiert und mit Bildern der Koalitionäre versehen zeigt das Video, wie Herbert das Mahl mit einem Panzer überrollt. Für diesen polemischen Beitrag zum Krieg der Bilder ist Herbert der Jubel des Publikums in Barcelona gewiss. 

Dass Matthew Herberts Wirken durchaus eine fröhliche Komponente hat, bestätigt sich am Abend bei der familiären Party seines Labels Soundslike in einem kleinen Club außerhalb des Festivals. Das DJ-Set von Herberts Lebensgefährtin Dani Siciliano ist eklektisch-charmant, das des Musikers Brooks ebenso vertrackt wie tanzbar. Dann folgen zwei Franzosen, die eigentlich erst am nächsten Tag ihren offiziellen Festivalauftritt haben. Nicolas Sfintescu und Ezechiel Pailhes verkörpern seit drei Jahren Nôze. Produzent Nicolas betreibt das Pariser Techhouse-Label Circus Company, Ezechiel ist professioneller Pianist und schreibt außerdem Filmmusik. Nôze entstand aus ihrer gemeinsamen Vorliebe für Improvisation und Free Jazz. Soeben ist ihr erstes Album „Craft Sounds and Voices“ erschienen. Auffällig ist auf der Platte zunächst die Verwendung von Piano Préparé. Dazu kommt dann viel perkussive, klickernde Rhythmik von Rassel bis Registrierkasse und, wenn es passt, ein gerader Beat. Weiterhin erklingen Stimmen und Chöre – die man eigentlich nie versteht, denn Nôze singen Lautmalereien, ein englisch klingendes Kauderwelsch, in dem Bruchstücke sinnentleerter Textphrasen zu erkennen sind. Dank dieser eigenwilligen Komponenten ist der Nôze-Sound stets klar erkennbar. Auch wenn die Stücke, entsprechend der kreativen Spannung zwischen elektronischer Musik und Jazz, für die ihre Macher stehen, eine erfreulich große Bandbreite abdecken. Mal möchte man einen derwischhaften Walzer aufs Club-Parkett legen, mal qualifiziert sich Nôze, gestützt von einer Bassklarinette, für die Musik eines Kusturica-Films. Trotz avantgardistischer Versuche swingen die meisten Stücke auf Angenehmste. Auf den Humor, der so offensichtlich zu Nôze gehört, setzen die beiden Pariser auch bei ihrem Auftritt im SonarLab. Über ein Grundgerüst aus Minimal Techno befeuert Nicolas die Menschenmenge, seine Stimme ist gelebter Exzess. Ezechiel improvisiert auf einem Korg Analog-Synthesizer kurze repetitive Phrasen und wabernde Knarzbässe. Eine eher grobschlächtige, aber unwiderstehlich Energie geladene Show – im Convent dels Àngels tobt das Publikum am frühen Nachmittag wie sonst nur zu später Stunde. 

Eines der unterhaltsamsten Konzerte gab auf Sonar ein Android: My Robot Friend. Eigentlich sollten wir eher von einer Performance sprechen. Der Anzug und der Helm der New Yorker Maschine leuchten und blinken wie ein voll dekoriertes Weihnachtsfenster. Fein abgestimmte Videos und live mitgeschnittene Bilder auf den Leinwänden ergänzen das Spektakel. Zusätzlich folgen Pyro-Effekte und absurde Apparaturen, My Robot Friend zieht bei jedem Song ein neues Gimmick hervor und spielt dabei noch sehr erdverbunden Bass. Durch die Verkleidung setzt der Künstler eine Reihe von Tabubrüchen in Szene, die wohl, wenn überhaupt, auf dem prüden amerikanischen Markt schocken dürften: „I am robosexual, I got diarree and I love to masturbate.“ Dieses UFO schwebt von Techno nach New Wave und landet letztlich in der großen Abteilung Pop. Im selben Bereich sind auch General Electrics zu Hause. Man nehme einige Funk und Soul-Stücke aus den 70ern, füge ihnen noch eine Prise britisches Singing und Songwriting hinzu – rotzig oder voll Schmalz, je nach Bedarf, wie etwa bei den frühen Kinks – und bekommt so eine Vorstellung vom Stil dieser Band. Herausragend Hervé Salters, der seine Keyboards so frenetisch spielt, dass er damit ganz allein wahlweise einen slappenden Bassisten samt Schlagzeuger oder die Rhythmusgruppe einer Ska-Formation ersetzen kann. Aber die anderen Musiker überzeugen ebenso durch ihre Spielfreude, so dass General Electrics vor allem als dynamisches Ensemble in Erinnerung bleibt. 

Vielleicht ist es dem Zufall oder einer glücklichen Auswahl zu verdanken – im Rückblick auf das Festival entsteht jedenfalls der Eindruck, die elektronische Musik hätte das Performen gelernt. Matthew Herberts Wille, seinen aufwendigen Ansatz auf der Bühne zu veranschaulichen, das überdrehte Entertainment von Nôze, die ausgefeilte Kostüm- und Multimediashow von My Robot Friend: Die Künstler versuchen, die mit ihrer Musik verbundene Bildschirmtätigkeit von der Bühne zu verbannen und bemühen sich, dem Publikum die Früchte ihrer Arbeit möglichst eigenständig zu präsentieren. Hasta luego in allen übrigen Clubs der Welt!

Aus Barcelona: Oliver Ilan Schulz