Carl Craig & Moritz von Oswald: “Recomposed” (FAZ – Rezension)

Letzter Ausgang Bolero

„Third stream music” hieß eine 1959 veröffentlichte Platte des Modern Jazz Quartet. Unter dieser Devise wollte der US-amerikanische Komponist Gunther Schuller Elemente aus Jazz und Klassik zu einer dritten Strömung zusammenführen. Steht uns nun ein „forth stream” bevor, in dem elektronische Musik mit etablierteren Genres verschmolzen wird? Zunächst einmal ermöglicht es die Erfindung des Samplers natürlich, die Musikgeschichte als Klangbibliothek zu nutzen. Nur einige Beispiele aus der elektronischen Musik der letzten Jahre: Jan Jelinek zerschnipselte Jazz oder Krautrock und arrangierte daraus Loop basierte Stücke. Der mexikanische Produzent Murcof formte Aufnahmen Neuer Musik zu stimmungsvollen Minimal-House-Tracks. Matthew Herbert wollte sein Rohmaterial selbst erzeugen, stellte eine Big Band zusammen und versuchte mit gemischtem Erfolg, ihre Musik bei Konzerten in Echtzeit zu bearbeiten. Vor zwei Jahren spielte Techno-Pionier Jeff Mills eine Auswahl seiner Kompositionen mit dem Montpellier Philharmonic Orchestra. Ein sinnloses Unterfangen, machten die gehetzten Instrumentalisten bei der Wiedergabe der Maschinenmusik doch fast zwangsläufig eine schlechte Figur. Beim jüngsten Fusionsprojekt „Recomposed” wählten die Produzenten Carl Craig aus Detroit und Moritz von Oswald aus Berlin also wieder den umgekehrten Weg: Ausgehend von einer Aufnahme der Berliner Philharmoniker unter Herbert von Karajan bearbeiteten sie im Auftrag der Deutschen Grammophon Gesellschaft den „Bolero” und die „Rapsodie espagnole” von Ravel sowie Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung”.

Carl Craig und Moritz von Oswald, deren Bedeutung im Bereich Techno durchaus mit der Karajans für die Klassik vergleichbar ist, wenden dabei den weitgefassten Remix-Begriff der elektronischen Musik an. Sie hören die Originalbänder durch und filtern Lieblingsstellen aus den Kompositionen heraus. Parallel dazu entwickeln sie eigene Ideen. Schließlich formen sie aus diesen Elementen neue Stücke. Sicherlich ein selbstbewusster Umgang mit den Werken des klassischen Kanons, aber womöglich die einzige Chance für einen kreativen Befreiungsschlag, um sich von den omnipräsenten Vorbildern zu lösen. So verzichtet „Recomposed” auf das allzu bekannte „Bolero”-Thema, und auch der Rhythmus des Stücks wird nicht überstrapaziert, obwohl er ob seiner repetitiven Form gern als Referenz für Techno herhalten muss.

Wie bewältigen Carl Craig und Moritz von Oswald nun ihre Neukomposition? Das Album ist als durchgehender Track angelegt, den ein „Interlude” in zwei größere Abschnitte („Movements” 1-4 und 5-6) unterteilt. Während die getragenen Flächen eines „Intro” die Harmonien für den ersten Teil vorgeben, setzt behutsam das „Bolero”-Schlagwerk ein. Aus einem Fragment der „Bilder einer Ausstellung” wird darüber ein mehrstimmiger, polyrhythmischer Trompeten-Kanon gebaut („Movement 2″). Jetzt überführen die Produzenten das Stück fast unmerklich – und das ist faszinierend – in einen Clubtrack. Diskreter Exit „Bolero”, im Untergrund treibt eine sanfte Bassdrum, klimpert ein introvertiertes Xylophon, bisweilen steigt ein gurgelndes Geräusch auf. Ein Percussion-Pattern kommt hinzu („Movement 3″). Stets changierend, von abstrakt und präzise zu verzerrt und beißend, wird es „Recomposed” am Ende von „Movement 4″ zu einem ersten Höhepunkt bringen. Schon vorher haben ein Bass und ein Keyboard eingesetzt, die das wunderbar fließend arrangierte Gefüge auch für einen aufgeklärten Dancefloor tauglich machen.

Was hätte Ravel wohl zu „Recomposed” gesagt? Immerhin duldete er keinerlei Abweichungen von seinen Vorgaben und wünschte sich seine Interpreten als Sklaven. Carl Craig und Moritz von Oswald schaffen dagegen etwas Eigenständiges, Neuartiges. Wenn Ravel wegen seiner Klangfarben geschätzt wird – hier werden die Remixer dem Komponisten gerecht und würdigen ihn mit dem Besten, was derzeit an Sound und Atmosphäre zu hören ist.

>> olian

„Recomposed” by Carl Craig & Moritz von Oswald,
Music by Maurice Ravel & Modest Mussorgsky (Deutsche Grammophon / Universal)

Publiziert in FAZ: 15. November 2008